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Tötende Wirtschaft und die Mystik der offenen Augen

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Skript eines Vortrages, den ich am 1. Oktober in Bad Honnef gehalten habe. Thema: Die Soziallehre von Papst Franziskus. Natürlich habe ich ihn nicht genau so gehalten, live ändern sich Texte bei mir immer. Aber als Angebot zum Nachlesen stelle ich das einmal ein.

Beginnen muss ich natürlich mit dem Satz, der wie kein anderer das soziale Denken dieses Papstes in der Öffentlichkeit bezeichnet hat: „Diese Wirtschaft tötet“. Ein Satz, der ein großes Echo gefunden hat, laut in den USA, fragend in den Wirtschaftsteilen der hiesigen Tageszeitungen, jubelnd in anderen Teilen der Welt.

„Diese Wirtschaft tötet“. Eine „Breitseite gegen die Marktwirtschaft“ sei dies, war die ersten Überschrift, die ich selber zu diesem Thema gelesen habe. In einem Kommentar – und es lohnt sich hier, besonders auf die USA zu schauen – kommentiert der Erzbischof von Philadelphia, Charles Chaput: „Wenn wir an ‚Wirtschaft‘ denken, denken wir Effizienz und Produktion. Wenn Franziskus an ‚Wirtschaft‘ denkt, denkt er an menschliches Leiden.“ Wir könnten hinzufügen: Wenn wir an ‚Wirtschaft‘ denken, denken wir an soziale Marktwirtschaft. An Balance, an Lehren aus den Ausbeutungen, an Mitbestimmung und so weiter. Da klingen die Klagen dieses Papstes fremd. Lateinamerikanisch halt.

 

Die Logik der Leistungsgesellschaft

 

In den „Stimmen der Zeit“ gab es vor einiger Zeit (8/2014) einen Artikel über das „unternehmerische Selbst“. Wir sollen uns als Unternehmerinnen und Unternehmer unserer selbst verstehen, dies sei die Logik unserer Leistungsgesellschaft. Die dem zu Grunde liegenden sozialen Prozesse werden als Individualisierung und Ökonomisierung beschrieben.

Ich nenne das nur um zu zeigen, dass so weit weg die Kritik des Papstes an unserer Wirtschaft dann doch nicht ist. Der Wirtschaftsteil der FAZ – nicht wirklich ein wirtschaftskritisches Blatt – hatte sogar einen Artikel unter der Überschrift „Wie wir lernten, die Banken zu hassen“. Eine Abrechnung mit der Unfähigkeit des Finanzsektors, sich selbst zu regeln. Maximalprofit ohne Rücksicht auf Verluste wurde dort angeklagt.

Ein anderer Artikel in derselben Zeitung beklagt, dass die Kirche die Reichen verachte. Den Armen sei dadurch aber noch längst nicht geholfen. Er unterstellt sogar der theologischen Tradition, aus der der Papst kommt, den Armen gar nicht helfen zu wollen, denn schließlich gehöre ihnen ja das Himmelreich. „Sozialistische Umwälzung“ wird befürchtet, nicht Hilfe sondern Almosen könne diese Sichtweise bieten. „Der Papst irrt“ hieß es in der Süddeutschen Zeitung, er bediene nur Ressentiments. Im selben Ton heißt es in einer christlichen Zeitung, der Appell des Papstes sei „christliche Brauchtumspflege“.

 

„Der Papst irrt“

 

Andere weisen auf eher einzelne Aussagen des Papstes hin, die in der allgemeinen Aufgeregtheit eher untergehen, etwa die positive Würdigung von Unternehmern, immer wieder, von Arbeit, von Wirtschaftswachstum. Ja, auch das gibt es von Papst Franziskus zu hören, wenn es auch meistens nicht durch die medialen Filter passt (außer natürlich bei Radio Vatikan).

Ich darf rein zur Belustigung noch Titel anfügen wie „would someone just shut up that pope?“ oder „Jesus Christ is a Capitalist“, oder historische Analysen, wie der Vatikan von Anti-Kommunismus unter Johannes Paul II. hin zu Anti-Kapitalismus geschwappt sei. Nur zum Vergnügen hier unter uns, denn wirklich ernst zu nehmen ist das nicht.

Meine Diagnose nach der Lektüre all dieser und noch vieler weiterer Beiträge aufgeschreckter Autoren: Jeder und jede liest den Papst durch seine eigenen Erfahrungen. Wir haben einen Konsens, mehr oder weniger, über was gut und richtig ist und was eine Fehlform des Wirtschaftens ist, genannt Gier. Wir haben hart arbeitende Mittelständler die ihre Mitarbeiter gerecht behandeln und gemeinsam zukunftsweisende Produkte und gleichzeitig Mitbestimmung schaffen wollen. Da stört der Papst mit seiner Botschaft, dass diese Wirtschaft, präziser: Die Menschen ausschließende Wirtschaft, tötet.

Eine Lösungsstrategie ist die, die Analyse des Papstes in Frage zu stellen. Das sei gar keine gültige Analyse, zu viel sei überhaupt nicht bedacht wie etwa der steigende Lebensstandard auf der gesamten Welt, selbst in armen Ländern, hervorgebracht allein durch den Markt und nicht durch sozialistische oder anderweitig etatistische Systeme. Oder man verortet die Analyse geo-historisch nach Lateinamerika: Was dort gelte und gegolten habe, habe die Sichtweise des Papstes geprägt und sei deswegen verständlich. Deswegen dürfe man das aber noch lange nicht auf die gesamte Welt ausdehnen. Das liest sich dann meisten so, dass die soziale Marktwirtschaft ja gar nicht das Ziel der Kritik des Papstes sei. Man immunisiert also sich selbst.

 

Und wieder: Eine geistliche Lesart

 

Ich möchte eine andere Lösungsstrategie mit ihnen versuchen, und zwar eine geistliche. Wir kommt der Papst dazu, so zu sprechen wie er spricht und was will er eigentlich damit erreichen? Das soll meine Leitfrage sein. Dahinter liegt natürlich die Einsicht, dass kirchliche Lehre, auch Soziallehre, nicht ohne geistliche Grundlage existieren kann. Wie genau die bei Papst Franziskus aussieht und warum sie etwas Besonderes ist, darum soll es nun gehen.

Papst Franziskus, Jorge Mario Bergoglio, ist Jesuit. Er stammt aus einer ganz eigenen geistlichen Tradition, die dem Orden nicht exklusiv ist, aber er hat sie nun mal daher.

Die Grunddynamik des Jesuitischen, wenn ich das einmal so grob verallgemeinernd sagen darf, ist das Entdecken des Willens Gottes in uns. Erlauben Sie mir einen kleinen Exkurs: In uns bewegt sich allerhand, Wünsche, Träume, Sehnsüchte, Müdigkeiten, Gedanken, Scham, und so weiter. In all diesen inneren Bewegungen kann ich mich selbst erkennen, meine Versuchungen, und letztlich auch Gottes Willen für mich. Aber dafür muss ich für diese Regungen aufmerksam sein und sie „unterscheiden“, wie das heißt, also durchdenken und durchbeten.

Bei Papst Franziskus in seinem programmatischen Schreiben Evangelii Gaudium klingt das dann so: „Die große Gefahr der Welt von heute mit ihrem vielfältigen und erdrückenden Konsumangebot ist eine individualistische Traurigkeit, die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht, aus der krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geisteshaltung. Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr, hört man nicht mehr die Stimme Gottes, genießt man nicht mehr die innige Freude über seine Liebe, regt sich nicht die Begeisterung, das Gute zu tun.“ (Evangelii Gaudium, 2) Darum geht es: Die Stimme Gottes hören, die inneren Regungen wahrnehmen, sich nicht abschotten.

 

Kein Belehren, sondern ein Anstecken und Aufrütteln

 

Aus vielen Texten oder Predigten Franziskus sprechen Zorn, Mitleid, Emotion, eben innere Regungen. Die Texte wollen anstecken. Sein Sprechen ist kein Belehren, kein Unterrichten, kein Diskurs, sondern ein Anstecken, Aufrütteln, innere Bewegungen wachrufen. Das ist der tiefere Zweck dessen, was Papst Franziskus tut. Er spricht innerlich zu uns, nicht akademisch. Nehmen wir als Beispiel den Besuch an der Mauer in Bethlehem. Jeder hat sofort verstanden, was der Papst da tut: Das war keine Anklage, das war eine Klage. Kein Wort hat er gesprochen aber sie Bildsprache war unglaublich mächtig. Es war auch kein billiger Effekt sondern eben der Ausdruck dessen, was ihn innerlich ergriffen hatte. Und was uns innerlich ergreifen sollte. Papst Franziskus will, dass wir mit Verstand und Herz reagieren, und zwar wir selbst, nicht das was wir gelernt haben oder das was unseren Wohlstand schützt, sondern wir selber. Es geht um meine Fehler und es geht um meine Reue.

Nehmen wir zum Beispiel die Konsumkritik; Konsum, der den Menschen degradiert, ihm seine Würde nimmt, ihn ausschließt, zum Ding macht, das man wegwirft, wenn es nicht mehr seine Funktion erfüllt und konsumiert. Das Geld regiere, sagt er immer wieder, und das sei keine ethische Frage mehr, keine Frage der Soziallehre, sondern eine Frage der Anthropologie. Wir unterwerden den Menschen dem Geld, dem Gewinn, dem Konsum. Gott der Vater habe im Schöpfungsbericht aber nicht dem Geld anvertraut, die Welt zu regieren, sondern dem Menschen. Das dürften wir niemals abgeben.

Einen geradezu heiligen Zorn, aber keinen aufbrausend-dominierenden, sondern einen stillen betenden, ergreift den Papst. Der erfrierende Mensch auf der Straße, die 30.000 Ertrinkenden im Mittelmeer und, Zitat Franziskus, „wir weinen noch nicht einmal mehr“. Was der Konsumismus, der Wohlstand, die Ökonomisierung aus uns gemacht hat, das greift der Papst auf.

 

„Wir weinen noch nicht einmal mehr“

 

Immer wieder kommt er dabei auf die alten Menschen zu sprechen, das ist ihm ein großes Anliegen: Nicht abschieben, nicht die wirtschaftliche „Nutzlosigkeit“ als Kriterium gelten lassen, den Menschen sehen, das Erinnern, die Verbindung der Generationen. Da geht es weniger darum, wie gut Altersheime ausgestattet sind, sondern mehr darum, ob ich selber das an mich heran lasse.

Ich selber lebe in einem Altersheim, die Hälfte des Jesuitenhauses in Rom, in dem ich lebe, ist ein Altersheim für Mitbrüder. Und jedes Mal, wenn Papst Franziskus von den Alten in unserer Gesellschaft spricht, fühle ich einen Stich in meinem Gewissen. Lasse ich das wirklich an mich heran?

Der Satz von Lampedusa, „wir weinen noch nicht einmal“, gibt uns den Schlüssel vor: Wir sind innerlich nicht betroffen. Also – um noch einmal Evangelii Gaudium zu zitieren – wir hören die Stimme Gottes nicht mehr.

„An jedem Ort und bei jeder Gelegenheit sind die Christen, ermutigt von ihren Hirten, aufgerufen, den Schrei der Armen zu hören. … Der Aufruf, auf den Schrei der Armen zu hören, nimmt in uns menschliche Gestalt an, wenn uns das Leiden anderer zutiefst erschüttert.“ Und dann wird er fast schon fundamentalistisch, weil er jede mögliche Kritik verbietet: „Das ist eine so klare, so direkte, so einfache und viel sagende Botschaft, dass keine kirchliche Hermeneutik das Recht hat, sie zu relativieren.“ (Evangelii Gaudium)

Wenn es also um diese inneren Bewegungen geht, anhand derer wir das erkennen können, was uns wirklich zu uns selber macht, dann muss alles bekämpft werden, was uns ruhig stellt und uns von uns selbst entfremdet.

 

Was ist Frucht des Gottesreiches?

 

„Es ist angebracht zu klären, was eine Frucht des Gottesreiches sein kann, und auch, was dem Plan Gottes schadet. Das schließt nicht nur ein, die Eingebungen des guten und des bösen Geistes zu erkennen und zu interpretieren, sondern – und hier liegt das Entscheidende – die des guten Geistes zu wählen und die des bösen Geistes zurückzuweisen.“ (EG 51) Das ist dann der nächste Schritt, die Unterscheidung und dann die „Wahl“, ein für Jesuiten geradezu magischer Begriff. Denn ich muss auswählen, und es gibt da auch den „bösen Geist“, uns hemmendes, der Geist der stets verneint wie Goethe es sagt, der verhindern will, dass wir wir selbst werden. Das können durchaus auch Strukturen sein.

Das gilt es zu erkennen und dann zu wählen, immer wieder, das bleibt ein Prozess. Aber wir müssen ihn selber gehen, wenn wir ihn verlegen, etwa in die Institution, sei es Kirche oder Staat oder Gesellschaft, dann verfehlen wir ihn. Wer wartet, dass sich etwas ändert, der wird ein „Mumienchrist“, wie es Franziskus nennt, reif fürs Museum.

Mir ist wichtig zu betonen, dass ich hier aus den ganzen Kritiken des Papstes an Wirtschaft und Finanz keine fromme Geschichte mache, Material für das Gebet sozusagen. Aber das ist die Art und Weise, sich in der Welt zu verhalten, in der ganz konkreten Realität. „Die Wirklichkeit steht über der Idee. Das schließt ein, verschiedene Formen der Verschleierung der Wirklichkeit zu vermeiden: die engelhaften Purismen, die Totalitarismen des Relativen, die in Erklärungen ausgedrückten Nominalismen, die mehr formalen als realen Projekte, die geschichtswidrigen Fundamentalismen, die Ethizismen ohne Güte, die Intellektualismen ohne Weisheit.“ (EG 231)

 

Die Peripherien

 

In der Betrachtung der Realität liegt aber noch eine weitere Aufgabe, und zwar die, die Welt in einer anderen Perspektive zu sehen. Durch die Augen derer, die nicht teilnehmen an der Gesellschaft, der Wirtschaft, die keine Möglichkeit haben, sich zu beteiligen, weil sie wortwörtlich von unserm Müll leben. Wir leben von der Armut Afrikas, weil fruchtbares Land nichts produzieren kann, weil wir mit unseren Schutzzöllen die Einfuhr verhindern. Ein Perspektivwechsel verschafft uns Zugang zur Realität, der nicht durch Selbstschutz oder das „in sich verkrümmt sein des Herzens“, wie es Augustinus nennt, geprägt ist.

Hier liegt der Sinn des Wortes „Peripherie“, das der Papst so gerne mag. Nun kann man sagen, dass es ein recht herablassendes Wort ist, politisch nicht korrekt, denn durch den Gebrauch setzt man sich ja in den Mittelpunkt und degradiert die übrigen an den Rand. Man bestätigt durch die Sprache die untergeordnete Rolle, welche die Armen und andere haben.

Deswegen muss man genauer hinsehen, was der Papst meint: Durch das Gehen an den Rand hört der Rand gewissermaßen auf, Rand zu sein. Er bestimmt dann die Perspektive. Wer ehrenamtliche Arbeit tut, mit Jugendlichen, alten Menschen, Menschen mit Behinderung, der wird das sehr genau kennen: Diese Arbeit lässt einen nicht unberührt. Wenn man sich dort einbringt, dann verändert sie die Perspektive, dann wird man Anwalt dieser Menschen schon rein dadurch, dass ich verstehe, wie von ihrer Perspektive aus die Welt aussieht.

Darum geht es. Das Sprechen von der „Peripherie“ nimmt erst einmal ernst, dass es diese Unterschiede gibt, es versteckt sie nicht in politischer Korrektheit sondern nimmt bestehende Unterschiede und Gefälle als Gefälle war und gibt ihnen einen Namen. Dann aber ist da der Wechsel der Perspektive, der unsere Wirklichkeit verändert.

 

Eine Frage unserer Menschlichkeit

 

Wieder das Beispiel Lampedusa: Er fährt hin, nicht um ein politisches Statement abzugeben, sondern um bei den Menschen zu sein. Regierungsvertreter und selbst Vatikanvertreter waren bei der Reise des Papstes – seiner ersten überhaupt – nicht eingeladen. Er wirft einen Kranz ins Meer, betet, spricht mit den Überlebenden, die Überbleibsel der Boote bilden den Altar und den Kreuzstab des Papstes: Diese Realität wird die Perspektive, mit der er auf die Welt blickt. „Adam, wo bist du?“ fragte er in einer für mich immer noch – über ein Jahr danach – eindrücklichen Predigt, ähnlich übrigens wie in der Ansprache in Yad Vashem. Unsere Menschlichkeit wird in Frage gestellt, unser Umgang miteinander, und das ist eine Frage der Perspektive.

So gesehen ist die Soziallehre Papst Franziskus vor allem eine Frage, wie wir die Welt sehen. Wie sehe ich zum Beispiel Armut: Durch Zahlen und Wirtschaftswachstumsberichte oder andere Analysen? Politisch? Oder durch die Augen derer, die keine Chance haben, an unserer Gesellschaft teil zu haben. Soziallehre hat etwas mit dem Öffnen von Augen zu tun.

Nehmen wir sein Sprechen über Globalisierung, um ein Thema herauszugreifen. „Die gleichmacherische Globalisierung ist ihrem Wesen nach imperialistisch und in ihrem Wirken liberal, menschlich (…) ist sie letztlich eine Art, die Völker zu versklaven.“ (Himmel und Erde, S. 170) Für den Papst kommt es auf den konkreten Ort an, um Lokalität. Wir „dürften nicht in einem abstrakten und globalisierenden Universalismus leben, als angepasste Passagiere im letzten Waggon, die mit offenem Mund und programmiertem Applaus das Feuerwerk der Welt bewundern, das anderen gehört.“ (EG 234) Diese „Kultur des Wohlstandes betäubt uns“, das System neige dazu, „alles aufzusaugen, um den Nutzen zu steigern“, alles „Schwache, wie die Umwelt,“ sei „wehrlos gegenüber den Interessen des vergötterten Marktes.“ Man kann sich den Papst geradezu physisch vorstellen, wenn er so spricht. Das ist keine Analyse, das ist die Sprache des Volkstribunen, der für die Rechte derer eintritt, die keine haben. Das öffnet Augen.

Drittens: Der Aufruf des Papstes zu Umkehr und Nachfolge ist konkret. Er ist nicht geistlich und fromm, es ist keine Mystik der geschlossenen Augen, wie Kardinal Walter Kasper es wunderbar charakterisiert, sondern eine Mystik der offenen Augen, offenen Hände, offenen Herzen. Hier geht es um Begegnung, und Papst Franziskus wird in der Beschreibung dieser Begegnungen genauso physisch, wie man ihn mittwochs bei der Generalaudienz sieht. Ich zitiere noch einmal Evangelii Gaudium: Wir spüren „die Herausforderung, die „Mystik“ zu entdecken und weiterzugeben, die darin liegt, zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarische Karawane, in eine heilige Wallfahrt.“ (EG 87) Hier wird wunderbar deutlich, wie schon rein sprachlich aus einer rein innerweltlichen Sache – der Begegnung von Menschen – etwas Geistliches wird. Oder besser ausgedrückt, wie diese Dinge zusammen gehören. Da spätestens wird aus dem Dienst am Bruder und an der Schwester echte Menschlichkeit und damit auch Gottesdienst. Die „heilige Wallfahrt“ ist nichts mehr, was wir sonntags tun, sondern findet im Gemeinsamen statt, in der Hinwendung.

 

Die bürgerliche Religion und ihre Verteidiger

 

Unsere Religion ist bürgerlich. Sie ist nicht arm, sie lebt von Strukturen und Steuern, von Regelungen und sie mag es nicht, aufgerüttelt, reformiert, in ihren Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt zu werden. Und das gilt für sich selbst konservativ Nennende genau so wie für so genannte Progressive. Dabei verwechseln wir manchmal – ich zitiere hier den Theologen Johann Baptist Metz – bürgerliche Unnahbarkeit mit evangelischer Freiheit. Soll heißen: Wenn wir von den Errungenschaften der Freiheit und Aufklärung sprechen und sie gegen die angeblich einengenden Dogmen verteidigen, dann verteidigen wir meistens nicht Freiheit, sondern unsere geordnete bürgerliche Welt. „Diese bürgerliche Religion fordert nichts, tröstet aber auch nicht. Gott ist in ihr zwar zitierfähig, aber kaum mehr anbetungswürdig.“ (Johann Baptist Metz, Jenseits bürgerlicher Religion).

Wir haben Krankenhäuser und Armenstellen, wir kümmern uns und lassen kümmern, aber wir bleiben in unserem Schutzraum der Bürgerlichkeit. Hier hilft nur eine bis in die Wurzeln gehende Umkehr, die auch die ökonomischen Grundlagen unseres gesellschaftlichen Lebens einbezieht.

Sie glauben gar nicht, wie oft wir in Interviews auf die Frage nach dem Sozialeinsatz der Kirche den Verweis auf die Caritas bekommen: Da sind die Zuständigen. Dieser Teil des Christentums wird delegiert. Und da ist ja auch etwas Wahres dran, ohne die Organisation und Professionalität dieser und anderer Organisationen könnten wir vieles gar nicht tun, hier liegt eine Stärke der deutschsprachigen Kirchen. Aber das darf eben nicht alles sein. Diese konkrete Hinwendung, dieser Perspektivwechsel, lässt sich nicht delegieren. Denn muss jeder selber tun, schlicht weil es zum Christsein dazu gehört.

 

Drei mal Kritik

 

Drei Kritiken folgen daraus, wunderbar zu beobachten in Evangelii Gaudium (sie merken, das ist mein Referenztext): Eine Kapitalismuskritik, eine Kritik an Konsumorientierung und Ökonomisierung (was nicht dasselbe ist wie die erste Kritik), und eine Kirchenkritik.

Die Kapitalismuskritik richtet sich gegen die Art und Weise, wie wir Konsum und Produktion und Verteilung eingerichtet haben, es geht um Umweltvernichtung und so weiter.

Bei der Kritik an der Konsumorientierung geht es dann darum, was das aus uns gemacht hat, es geht um die inneren Verkrümmungen, das nicht sehen Wollen, die Zufriedenheit und Selbstzufriedenheit, die das auslöst.

Die Kirchenkritik schließlich bezieht sich in ganz besonderer Weise auf den Auftrag, den die Kirche als Gemeinschaft derer, die Christus nachfolgen, hat. Gott erlöst nicht Einzelne, sondern sein Volk, und damit auch die Sozialbeziehungen zwischen den Menschen. Auch das will und soll Teil des Reiches Gottes sein. Religion ist nicht privat, nicht individuell, es geht nicht um mich und meine Spiritualität, sondern es geht um ein „Wir“. Und dieses „Wir“ muss alle Menschen einschließen.

Aber gehen wir noch einmal zurück zu den Analysen des Papstes. Ein Vorwurf war ja, dass die nicht sehr tief seien und sozialwissenschaftlich oder Wirtschaftswissenschaftlich oder sonst wie überholt seien oder zu kurz griffen.

Meine Antwort: Ich darf dem Papst und seinen Analysen widersprechen, ich soll es sogar. Zum Beispiel so:

Wirtschaftswissenschaftler weisen darauf hin, dass die Armut weltweit abnimmt, dass wirtschaftliche Ungleichheit nichts in sich Schlechtes ist, das Umverteilung der Einkommen keine Lösung sei. Ist die Finanzkrise nun ein Missstand oder ist sie systemimmanent? Auch darüber kann man streiten. Darüber soll man auch streiten. Wenn man das aber tut, um den eigenen Reichtum zu verteidigen, wird Papst Franziskus an einer Debatte nicht interessiert sein. Wenn aber dahinter der Antrieb steckt, die Welt besser machen zu wollen, oder gar der christliche Antrieb, etwas zum Reich Gottes auf dieser Welt beitragen zu wollen, dann wird der Papst debattieren und hören und wertschätzen.

Papst Franziskus glaubt zum Beispiel nicht daran, dass das freie Spiel wirtschaftlicher Kräfte und der Märkte eine Besserung für alle Menschen bringe. Der Mensch sei nicht mehr der Chef der Märkte, sondern ließe sich bestimmen, im Handeln und in seiner Identität. Darüber kann man – und soll man – streiten. Da gibt es gute Argumente und Zahlen auf allen Seiten. Aber letztlich ist der Aufruf und die wortmächtige Kritik des Papstes eben keine billige Rattenfängerei.

 

Verfahren, nicht Lehre

 

Papst Franziskus hat in dem Sinn keine Lehre und auch keine Analyse. Er gibt uns keine Leitlinien vor, sondern Verfahren. Darin ist er ganz und gar Jesuit. Es geht um das Vorgehen, den Modus Procedendi. Es geht um unseren Glauben und darum, wie der zu leben ist. Es geht um Bekehrung und es geht um Nachfolge. Dass wir die Welt ändern müssen, ist mit Blick auf Lampedusa und die Umweltzerstörung offensichtlich. Wie das zu geschehen hat, dafür gibt uns der Papst kein Rezept, sondern die inneren Wegmarken, das selber zu tun.

Die Revolution der zärtlichen Liebe Gottes, von der der Papst spricht, funktioniert nur, wenn sie in uns funktioniert.

Sehr geehrte Damen und Herren, Sie hatten mich gebeten, etwas über die katholische Soziallehre à la Franziskus zu sagen. Was sie bekommen haben, war ein Vortrag über Bekehrung. Jetzt könnten Sie sagen, das ist nicht das, was wir bestellt hatten. Und ich antworte: Bei Papst Franziskus bekommt keiner, was er bestellt hat.

Man kann diesen Papst nicht in Fachkategorien fassen. Und je länger ich ihm zuhöre, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass der Ausgang all seines Denkens geistlich ist. Wenn man diesen Schritt, diesen ersten Schritt nicht macht, dann gehen alle folgenden Schritte fehl.

 

Wurzel im Glauben

 

Papst Franziskus an der Trennmauer in Irsael, am Monument für die vom Terror getöteten Israelis, an der Westmauer des Tempels, seine Friedensgebete. Seine Treffen mit Opfern der Unglücke vor Lampedusa, der Fähre Sewol in Korea, mit Palästinensern. Sein Aufruf immer und immer wieder, das Leben zu schützen, alt, jung und ungeboren. Sein Einsatz gegen die Verschwendung des Menschen, das alles ist nicht „nur“ humanistisch, sondern zutiefst im Glauben verwurzelt. In Benedikt XVI. hatten wir einen Papst, der sehr darum gekämpft hat, all diese Dinge so darzustellen, dass sie auch Nichtchristen und Nichtglaubenden einleuchten konnten. Bei ihm ergab sich ein Denken, dass zwar im Glauben begründet aber auch ohne den Glauben diskutiert werden konnte. Bei Papst Franziskus ist das anders. Man kann seine Botschaft verstehen und seine Appelle hören, er nimmt Nichtglaubende und andere Religionen sehr ernst, aber wenn man ihm selber auf die Spur kommen will, dann muss man den geistlichen Weg gehen.

Und: Man muss es selber tun. Deswegen ist für mich der Zentralbegriff zu Papst Franziskus der der Dynamik, der inneren und der äußeren. Das sieht man ja auch schon an seiner Wortwahl, er liebt die Verben der Bewegung. Wenn wir uns nicht bewegen, innerlich und äußerlich, bekehrend und nachfolgend, dann ist uns all das, was der Papst uns sagt, nicht zugänglich.

Ich darf wiederholen: Die Revolution der zärtlichen Liebe Gottes, von der der Papst spricht, funktioniert nur, wenn sie in uns funktioniert.


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